: Auf Afghanistan hören
Statt Tornados zu schicken, sollte Deutschland in der Nato auf eine neue Strategie am Hindukusch drängen. Von einer Ausweitung des Krieges profitieren nur die Taliban
Wozu der Wirbel um eine Hand voll Aufklärungsflugzeuge? Zu Haus stehen sie doch nur untätig in ihren Hangars. In Afghanistan könnten sie wenigstens ein paar nützliche Fotos schießen.
Wäre die Frage so simpel, schlüge sie weniger hohe Wellen. Doch es geht bei der Entscheidung, deutsche Tornados nach Afghanistan zu schicken, um mehr als um die nüchterne Prüfung eines militärischen Bedarfs oder faire Lastenteilung unter Nato-Bündnispartnern. Das Thema hinter dem Thema ist die wachsende Sorge Berlins, in einem Boot zu sitzen, das aus dem Ruder läuft – oder sogar sinken könnte. Auch in anderen Hauptstädten wird der westlichen Afghanistan-Strategie hinter vorgehaltener Hand die Erfolgsfähigkeit schlicht abgesprochen.
Nach dem 11. September war Afghanistan das erste Beispiel eines von außen erzwungenen Regimewechsels. Seither ist es das Experimentierfeld einer Befriedungspolitik, die auf das permanente Nebeneinander ziviler und militärischer Mittel setzt. Es gibt einen gewählten Präsidenten und ein gewähltes Parlament. Kriegsflüchtlinge aus Nachbarländern sind zurückgekehrt. Die freiwillige Entwaffnung regionaler und lokaler Milizen kommt voran.
Allerdings entstammt mehr als die Hälfte der nationalen Wertschöpfung dem Opiumanbau. Die Autorität der Regierung in Kabul erstreckt sich noch immer nur auf einzelne Landesteile. Mit dem Aufbau einer afghanischen Armee, die imstande wäre, die Außengrenzen zu überwachen, hapert es. Ebenso schleppend vollzieht sich die Reorganisation des Justiz- und Polizeiapparats.
Das Ziel, das Land staatlich und wirtschaftlich zu entwickeln, wurde also verfehlt. Trotzdem befand sich das Land politisch lange in einem Zustand gespannter Ruhe. Aber seit gut einem Jahr sind der Süden und Osten wieder Kriegsgebiet. Es kam zu wochenlangen gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Tausenden von Toten. Von 2005 zu 2006 haben sich die Angriffe auf afghanische und ausländische Streitkräfte verdreifacht, die Selbstmordanschläge versechsfacht. Die Taliban, die schon besiegten Gotteskrieger, die bis 2001 das Land beherrschten, sind wieder aufgetaucht. Ganze Distrikte fielen an sie zurück. Sie drohen, im kommenden Frühjahr die bewaffneten Anstrengungen zu vervielfachen. Die Nato reagierte ihrerseits mit der Ankündigung einer breiten Militäroffensive.
Wie erklärt sich die abrupte Verschlechterung der Sicherheitslage? Auf diese Frage antworten westliche Kommentatoren mit der Ausdehnung des Kommandobereichs von Isaf, der internationalen Schutztruppe, auf den Süden und Osten Afghanistans. Die Erweiterung wurde im Herbst 2005 beschlossen und im zweiten Halbjahr 2006 vollzogen. Träfe das zu, blieben die Motive der Aufständischen immer noch unklar. Warum sollten radikale Islamisten multinationale Sicherheitskräfte mehr fürchten und entschlossener bekämpfen als amerikanische Soldaten?
Der Defekt liegt woanders: Mit der Ausweitung des Isaf-Einsatzes hat die Nato das Gros der Koalitionstruppen von Enduring Freedom übernommen, die bisher unter amerikanischer Führung als Teil des so genannten Krieges gegen den Terror nach eigenen Regeln und ohne UNO-Mandat operierte. Einige tausend amerikanische, britische und kanadische Soldaten unterstehen nun – wie das Afghanistan-Kontingent der Bundeswehr – der Nato. Ansonsten tun sie dasselbe, was sie auch vorher taten: Sie führen Gefechte mit Aufständischen, nun aber als Nato-Soldaten.
Somit hat nicht die Isaf, die laut UNO-Mandat einen Sicherheitsrahmen für den Wiederaufbau des Landes und die humanitäre Hilfe für die Bevölkerung schaffen soll, die robusten Kampfverbände abgelöst. Es ist umgekehrt: Isaf tritt in die Fußstapfen der Antiterrorkrieger. Der amerikanische General, der jetzt das Kommando führt, ist der ehemalige Befehlshaber der Operation Enduring Freedom.
Die Bundesregierung hat den Etikettenwechsel, der in Wahrheit ein Rollenwechsel ist, nicht betrieben. Sie hat ihn im Nato-Rat aber auch nicht blockiert. Dafür zahlt sie nun den Preis. Ihre Tornados werden die Ziele identifizieren, auf die andere Verbündete dann ihre überlegenen Waffen richten. Das mag keine Kampfhandlung sein, Kampfunterstützung ist es allemal.
Im afghanischen Alltag gehören dazu Luftschläge und Kommandoaktionen gegen wirkliche oder vermeintliche Widerstandsnester mit häufig mehr zivilen als paramilitärischen Opfern. Dazu gehören Razzien in der aus dem Irak bekannten Manier. Jedes Dorf, jeder Hof, jedes Haus werden durchkämmt. Wer männlich ist und über achtzehn, gilt bis zum Beweis des Gegenteils als Feind. Die Herzen der Menschen lassen sich so nicht gewinnen. Warum die Taliban plötzlich wiedererstarkt sind, könnte die falsche Frage sein. Wichtiger wäre, sich klarzumachen, warum ihr Rückhalt in der Bevölkerung beständig wächst.
Fünf Jahre nach der Entmachtung der Islamisten in Kabul steckt die Afghanistan-Politik des Westens tief in der Sackgasse. Die Liste an Vorschlägen zum Umsteuern ist lang. Viele stammen aus dem Land selbst. Entwicklungsprojekte mit Schwerpunkt Armutsbekämpfung stehen an erster Stelle. Hamid Karsai fordert, auf Widerstandskräfte nicht nur zu schießen, sondern auch mit ihnen zu reden. Bisher stößt sein Konzept eines nationalen Versöhnungsprogramms samt Amnestiegesetz bei der amerikanischen Schutzmacht auf taube Ohren.
Die europäischen Staaten schmälern ihr Gewicht in der Nato durch ein Übermaß an Anpassungsbereitschaft. Zwar ist der Generalsekretär der Allianz stets ein Europäer, doch will er Erfolg haben, so heißt es in Brüssel, muss er amerikanischer auftreten als die Amerikaner. Jaap de Hoop Scheffer, der gegenwärtige Amtsinhaber, liefert mit seiner Lieblingsidee transatlantischer Arbeitsteilung eine Kostprobe: Jeder möge das für Afghanistan tun, was er am besten kann. Die Europäische Union, erfahren in der Stabilisierung von Nachkriegsgesellschaften, soll den Wiederaufbau bewerkstelligen, während die Nato als stärkstes Bündnis der Welt für Sicherheit sorgt. Der Haken: 23 der 27 EU-Mitglieder gehören auch der Nato an. Sie würden zweimal zur Kasse gebeten, zivil und militärisch.
Wenn die Abgeordneten des Bundestages voraussichtlich am 9. März über den Tornado-Antrag befinden, sollten sie sich bewusst sein, dass ihre Entscheidung Weichen stellt. Ihre Zustimmung wird unausweichlich die nächste Order nach sich ziehen. Zu Recht monieren die Militärs vor Ort, dass die ihnen abverlangte Erzwingungsstrategie viel mehr Kampftruppen am Boden erfordert, als sie heute aufbieten können. Es wäre die Investition in ein Fass ohne Boden und eine Bankrotterklärung zugleich.
Nötig ist die politische Neubestimmung des Kurses zur Befriedung Afghanistans. Solange Washington in seiner hermetischen Weltsicht verharrt, kann der Anstoß dazu nur aus Europa kommen. REINHARD MUTZ